Zum Wert dessen, das schon da ist

[…] Dieser Zusammenhang ist nicht allein ein sozialer, und er erschöpft sich auch nicht in der Erweiterung um eine ökologische Komponente. Der Zusammenhang ist von der Art, dass ich als Mensch dazu fähig bin, Dinge, die nicht in meiner Macht liegen, die nicht von mir hervorgerufen, in Gänze analysiert und dann kontrolliert werden können, als Bereicherung zu erfahren, als das, was mich umgibt, und durch das sich neue Wege auftun können.

Uns Menschen ist in der Rückschau oft klar, dass unser Lieblingsessen als Kind, unser Lieblingsversteck oder –spielzeug eine ganze Welt bedeutet hat, nach der wir uns vielleicht sogar manchmal zurücksehnen. Wenn wir darüber nachdenken, worin der Wert dieser Welt liegt oder lag, wird uns einleuchten, dass es nicht die messbaren Kriterien wie Material, Preis, Prestige, Menge oder ähnliches sind. Wir haben diese Dinge und Situationen nicht selbstgekauft, wohl auch nicht im Laden ausgesucht, nicht in Auftrag gegeben, sondern wir haben sie entdeckt, haben sie angenommen, als das, was sich uns bot.

Wir können durch die Philosophie einsehen, dass wir keine kapselartigen Individuen sind, weder in Differenz zu anderen Menschen, noch zu unserer Umgebung. Wir können lernen, uns in den Dingen zu entfalten, die bereits da sind. […]

Ein Selbstzitat.

Philosophieren mit und ohne Vernunft

Das Wort „Vernunft“ löst Emotionen aus

Philosophie gilt vielen als die Domäne der Vernunft. Vielen? Ist es denn nicht so, dass Philosophieren etwas Rationelles, Logisches ist, etwas, das in denkenden Köpfen stattfindet, eine Geisteswissenschaft? Ich stelle das in Frage. Und sobald ich das tue – löst das Emotionen aus. „Philosophie ohne Vernunft? Ohne logos?! Haben Sie sich mal mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt??!“ – Ein nicht uninteressantes Phänomen.

Genauso aber protestieren wir gerne schnell und impulsiv gegen die Vernunft. „Sei doch vernünftig!“ – Will man das hören? Sagt man sich das selber gern? Eher unter Zähneknirschen. Und man kommt sich dabei spießig und langweilig vor.  „Ach was, vernünftig, was hab ich davon?! Immer nur vernünftig sein – das macht doch keinen Spaß!“ Man kann es nicht mehr hören: Vernunft.

Manche gar fordern via Hirnforschung und Co ganz wissenschaftlich und theoretisch vermeintlich geradezu bestechend: Vernunft gibt es gar nicht wirklich, hat uns als Menschheit nirgendwohin gebracht, back to the roots, die Instinkte müssen wieder her! – Das Ganze ebenfalls nicht unemotional.

Zwischenfazit: Das Für und Wider die Vernunft ist eine emotionale Debatte.

„Vernunft“ in der Philosophie – unterschiedliche Ansätze

Aber jetzt seien wir doch mal ganz… besonnen und klären: Was ist das überhaupt, Vernunft? Da tut sich ein buntes Sammelsurium an philosophischen Hinweisen auf, die die Herkunft, die Zusammenhänge und die Entwicklung des Wortes „Vernunft“ begleiten.

In der griechischen Antike sprechen die Begriffe „nous“, „logos“ und „dianoia“ von der Vernunft. Die Römer verwenden die lateinischen Begriffe „intellectus“ und „ratio“.  Sie meinen alle ein bisschen etwas Anderes, haben etwas damit zu tun, dass man etwas versteht, und zwar so, dass es alle auf diese oder sehr ähnliche Weise verstehen können. Etwas verstehen oder erkennen können (und zwar so, dass ich nicht die Einzige damit bleibe), ist ein Können, eine Fähigkeit. Vielleicht gar nicht so schlecht. Ich kann mich dann mit anderen darüber verständigen, wir teilen etwas, haben eine gemeinsame Basis.

Im Mittelalter überlegen sich Philosophen, ob Vernunft ein unmittelbares Verstehen bedeutet, etwa einen direkten Anschluss ohne Fehleinschätzung an etwas Übersinnlich-Göttliches. Oder formatiert sie quasi unser Verstehen, macht es zu einem arbeitsfähigen System? Die Begriffe, die um die Vernunft kreisen, werden hier noch lange nicht einheitlich verwendet, gerade die Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand ist nicht eindeutig.

Kant – wer denn sonst – spricht dann ein Machtwort. Ohne dass ich auf Details eingehen will: Kant hat die Vernunft systematisch über den Verstand gestellt, da die Vernunft bei ihm sozusagen die Fähigkeit bedeutet, Verstand zu haben und zwar auf eine geordnete und in seiner Kompetenz eindeutig beschreibbaren Art und Weise.

Dieser Miniexkurs bis Kant ist natürlich nicht belastbar. Was ich damit nur sagen will, ist:

  1. Was Vernunft ist, ist diskutierbar. Platon, Aristoteles, Luther, Kant und alle anderen Denkerinnen und Denker der Philosophiegeschichte, haben diesen Begriff unterschiedlich definiert, ihn von unterschiedlichen Standpunkten aus entwickelt, versucht, ihn in unterschiedlichen Zusammenhängen möglichst sinnbringend anzuführen.
  2. Im Groben und Ganzen hat Vernunft etwas damit zu tun, dass wir als Menschen in Beziehung zu etwas stehen, das nicht wir selbst sind, „außerhalb“ unserer, zur Welt, zum Sein, zu anderen Menschen. Und in dieser Beziehung soll es einen Faktor geben, der diese Beziehung überhaupt ermöglicht, führbar und erfolgreich-stimmig macht. Das bringt uns zu zwei klassischen Fragestellungen zur Vernunft: Ist Vernunft etwas zwischen mir und der „Wirklichkeit“ und/ oder zwischen mir und den anderen Menschen, die sich gemeinsam zu so etwas wie „Wirklichkeit“ verhalten? Beides? Keins von beiden?
  3. Das alles sagt nicht, dass Vernunft etwas „im Kopf“ sein müsse, „die Sache“ den Vorrang vor dem konkreten Menschen hätte, das „Rationale“ klar und eindeutig „sinnvoller“ als das „Emotionale“ sei.

Alternativen zur Vernunft?

In letzter Zeit wird neben dem Instinkt auch viel über die Intuition und das Bauchgefühl gesprochen. Ich tue mich schwer damit zu sagen, dass Philosophie etwas mit Bauchgefühl zu tun haben sollte. Und auch nicht mit Instinkt. Aber Philosophieren ist meiner Ansicht nach „Liebe zur Weisheit“. Und „Liebe“ will ich nicht mit „Streben nach“ gleichsetzen lassen. In „Liebe zu“ ist eine Qualität darin, die über Vernunft hinausgeht, jedenfalls über den Vernunftbegriff, wie er im Anschluss an Kant auftritt. Es geht natürlich nicht um eine rein gefühlte, unbewusste, getriebene Liebe. Aber wenn wir denken, sind wir bereits mehr als nur Köpfe, wir denken nie nur mit dem Kopf. Und diese Bereiche oder Fähigkeiten in uns mitzumeinen, wenn man von „Philosophieren“ spricht, verlangt von mir, die Vernunft nur als eine neben andere Kräfte des Philosophierens zu stellen.

Der Begriff der Intuition ist dem der Vernunft auch philosophiegeschichtlich gar nicht so fern, ja, an manchen Stellen überschneiden sie sich, berühren sich. Im Unterschied zur Vernunft kommt der Intuition etwas zu, das einfach so angenommen wird, ohne Begründung oder Begründungsmöglichkeit. Hmmm, das kann auch unheimlich werden. Wenn wir an Tyrannen, Diktatoren und Fanatiker denken – die lassen sich auch an keiner Begründung ihres Tuns messen. So sympathisch die Sache mit dem Bauchgefühl auch ist. Dennoch – in einer Zeit, in der wir kein Konzept von Wahrheit haben (wollen), also auch keine letzten Gründe angeben können (nein, die Zahlen 1 und 0 genauso wenig wie 1, 2 und 3 sind begründbar – Grundlage aller Naturwissenschaften), scheint es geradezu „irrational“, „Rationalität“ einzufordern, und „Intuition“ gering zu schätzen. Vielleicht verlangt Intuition von uns, ein anderes Verhältnis zu unserem Denken einzugehen. Vielleicht müssen wir so etwas wie Vertrauen in unser Denken integrieren, anstelle von Kritik oder Letztbegründungen – Vertrauen zum Denken und vor allem zum Gedachten.

Vielleicht müssen wir intuitiv philosophieren lernen, um nicht irrational zu philosophieren.

Und die Vernunft gebe ich deshalb nicht auf, ich mache mir nur nicht die Illusion, dass sie immer zuverlässig ist. Was passieren kann, wenn alle die Vernunft verlieren, zeigen uns die Geschichte und ein Blick in die unmenschlichen Ereignisse in aller Welt. Allerdings sind dort weder Vernunft noch Intuition ersichtlich.

Zeit kann man nicht haben – Zeit kann man sich lassen

Wie wir über Zeit denken und sprechen wirkt sich darauf aus, wie wir Zeit erleben. Haben wir Angst, dass sie vergeht? Sind wir gestresst, weil wir zu wenig von ihr haben? Sind wir gelassen, weil wir uns Zeit lassen und es die richtige Zeit für alles gibt?

Was wir alles in die Zeit hinein managen

Vor kurzem habe ich in einer Organisation eine Fortbildung zum Thema Zeit durchgeführt. Wir terminieren in unserer westlich denkenden und arbeitenden Welt jede Menge Aufgaben, Tasks, To Dos, Herausforderungen, Projekte und sonstige Leistungen. Wir scheinen ein bestimmtes Zeitkontingent zu haben. Im Zusammenhang mit diesen Handlungen und der Zeit stehen: Stress, Zeitnot, Deadlines (!), asap, Überstunden, Ungeduld, Zeit ist Geld (und?), Effizienz, Zeitkiller, Angst, Pulsschlag, Burnout, uvm. Zeit steht im Zusammenhang mit etwas, das fehlt und krank macht.

Zeit und Überleben

Bei der Zeit geht es einerseits darum, Wirklichkeit zu gestalten – jeden Tag etwas zu tun, das das eigene Leben und das anderer Menschen sichert: Nahrung oder Material (abstrakt: Geld) beschaffen, bearbeiten, verwerten. Wenn wir dies im Laufe der Zeit nicht tun, verhungern, verdursten, erfrieren wir. Denn unser Körper funktioniert in zeitlichen Abläufen, in Zyklen. Mit den Zyklen unseres Körpers hängen die Zyklen unserer Lebensumstände zusammen: die der Natur, möglicherweise auch welche der Kultur. Wenn es Nacht ist müssen wir damit anders umgehen, als wenn Tag ist – ebenso mit Kälte und Hitze, Regen und Sonne, usw. Zeit hat etwas mit der physischen Lebenssicherung zu tun.

Zeit und Erleben

Andererseits erleben wir Zeit, die Zeit fühlt sich irgendwie an. Vielleicht vergeht sie zu schnell oder sie zieht sich in die Länge, sie ist knapp oder herrlich oder vieles andere. Wie wir die Zeit erfahren hängt damit zusammen, wie wir Zeit denken, welcher gesellschaftliche Konsens darüber besteht, was Zeit ist. Wir hier in der westlichen Welt denken, dass Zeit etwas Begrenztes ist, das wie auf einer Linie abläuft. Es mag befremdlich oder schockierend, vielleicht auch blödsinnig scheinen, aber dass Zeit etwas ist, das vergeht, ist keine Tatsache, kein Gesetz, keine Wahrheit.

Niemand weiß, was Zeit ist

Die Idee der ablaufenden Zeit ist irgendwann und irgendwo zum ersten Mal gedacht worden. Vermutlich hat sie etwas mit religiösen oder auch allgemein moralischen Vorstellungen zu tun (man muss ein guter Mensch werden). In jedem Fall passte sie gut zur Entstehung und Entwicklung der industriellen Gesellschaft. Durch zeitliche Koordination können mehrere Menschen an komplexeren Aufgaben aufeinander abgestimmt arbeiten, Maschinen in Gang gehalten werden.

Man wird jetzt gerne die Wissenschaft hinzuziehen, von Zahlen und Objektivem sprechen wollen. Wenn Sie das wirklich wollen, die Physik befragen zum Beispiel, werden Sie sehr viel lesen, nachdenken und nicht Verstehen (niemand versteht es so ganz). Und das Erkannte, also der echte, wissenschaftlich fundierte Stand der Dinge wird keine Bestätigung dafür liefern, dass Zeit etwas Objektives sei, etwas, das in eine Richtung abliefe, etwas, das überhaupt existiert. Newtons Theorie, dass Zeit objektiv und überall im Universum gleich verlaufe, ist von Einstein widerlegt. Nach Einstein ist Zeit relativ und hängt von Raum und Materie ab. Zeit sei mit dem Urknall entstanden – es gäbe eine Zeit, bevor es Zeit gab. Wir können wir uns das kaum vorstellen, aber wenn wir uns auf Wissenschaft, auf Physik und „logisches“, „rationales“, „analytisches“, „vernünftiges“, oder „objektives“ Denken berufen wollen, ist dies das Ergebnis. Ich möchte hier einfach nur darauf hinweisen, dass Zeit nicht als etwas bewiesen werden kann, das vergeht, verrinnt. Wenn wir das denken oder so erleben, liegt das nicht daran, wie die Zeit ist, sondern daran, wie wir über Zeit denken. Das hat sicherlich viele Vorteile, sonst würden wir nicht so denken. Aber vielleicht zeigen sich auch Nachteile, und dann lohnt es sich, neu über unser Zeitkonzept nachzudenken. Denn eines ist dennoch sicher: Wir leben dieses eine Leben nur einmal. Wie wollen wir es erleben?

Lineare Zeit und zyklische Zeit

Meiner Ansicht nach lohnt sich ein interkultureller Vergleich. Wir (vor allem in der westlichen Welt) stellen uns Zeit gerne als einen Fluss vor. Aber wir können Zeit auch als einen Kreislauf oder einen See, oder etwas ganz anderes denken. Die Metapher vom Fluss entspricht der Idee, dass Zeit verrinnt, also linear abläuft.

Viele (Natur-)Kulturen sehen die Zeit als einen Kreislauf, etwas das immer wiederkehrt und nicht vergeht. Jeder Morgen ist eben der Morgen, jeder Frühling der Frühling, jedes Jahr das Jahr. Wichtig ist nicht, was die Uhr anzeigt, sondern was gerade ganz konkret Wirklichkeit ist. Im Burundi in Afrika können Terminabsprachen wie folgt aussehen: „Wir treffen uns, wenn die Kühe auf die Weide gehen/ zur Wasserstelle laufen.“ Irgendwann laufen die Kühe mit Sicherheit zur Wasserstelle, das tun sie jeden Tag. Das Volk der Nuer (Nomaden aus dem Südsudan) unterteilt die Monate nach der geeigneten Zeit für etwas: Wann scheint es geeignet, das Lager bei den Tieren aufzuschlagen? – Dann ist der Monat „dwat“. Wann scheint es geeignet, in die Dörfer zurückzukehren? – Sobald es soweit ist, beginnt der Monat „kur“.

„Europäer haben Uhren, Afrikaner haben Zeit.“ (Afrikanisches Sprichwort)

Bei diesen Völkern ist Zeit nicht etwas, das man haben und organisieren kann, sondern etwas, das man (zu-)lässt, wie es ist oder kommt. Die Zeit für Regen, für Ernte, für Tiere hüten, für Pflanzen sammeln, etc. kommt immer wieder, die Zeit ist eine “Zyklische Zeit“. Die zyklische Zeit wirkt sich anders auf das Weltbild und das Empfinden der Zeit aus als die lineare Zeit. Man verliert Zeit nicht, sie kommt ja morgen oder nächstes Jahr wieder. Wir müssen also nicht zwingend denken, dass Zeit verrinnt oder rast. Bei manchen Völkern steht die Zeit sogar still.

Wie wirkt sich unser Bild von Zeit auf unsere Zeiterfahrung aus?

Die zyklischen Weltbilder bringen Gelassenheit. Es geht nicht um die Zeit, die auf der Uhr steht (Uhrzeit-Kultur), sondern darum, wofür die Zeit „reif“ ist, um die Zeit, die etwas braucht (Ereigniszeit-Kultur). In jedem Moment der Reife ist sowohl der Anfang als auch das Ende enthalten. Die Idee von der zyklischen Zeit bewahrt vor dem Empfinden von Verlust.

Man kann versuchen, Zeit zu managen. Das gelingt vielleicht teilweise, aber wir stellen doch immer fest, dass wir Zeit ja gar nicht „haben“ – wie können wir sie dann wirklich managen? Man kann auch versuchen, Zeit zu „lassen“ – sich und den anderen zu lassen. Das wäre eine Chance auf Gelassenheit.

„Der Gruß der Philosophen untereinander sollte sein: Laß Dir Zeit.“ (Ludwig Wittgenstein)

Literatur:

  • US-Psychologe Robert Levine: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen.
  • Martin Heidegger: Gelassenheit