Philosophieren mit und ohne Vernunft

Das Wort „Vernunft“ löst Emotionen aus

Philosophie gilt vielen als die Domäne der Vernunft. Vielen? Ist es denn nicht so, dass Philosophieren etwas Rationelles, Logisches ist, etwas, das in denkenden Köpfen stattfindet, eine Geisteswissenschaft? Ich stelle das in Frage. Und sobald ich das tue – löst das Emotionen aus. „Philosophie ohne Vernunft? Ohne logos?! Haben Sie sich mal mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt??!“ – Ein nicht uninteressantes Phänomen.

Genauso aber protestieren wir gerne schnell und impulsiv gegen die Vernunft. „Sei doch vernünftig!“ – Will man das hören? Sagt man sich das selber gern? Eher unter Zähneknirschen. Und man kommt sich dabei spießig und langweilig vor.  „Ach was, vernünftig, was hab ich davon?! Immer nur vernünftig sein – das macht doch keinen Spaß!“ Man kann es nicht mehr hören: Vernunft.

Manche gar fordern via Hirnforschung und Co ganz wissenschaftlich und theoretisch vermeintlich geradezu bestechend: Vernunft gibt es gar nicht wirklich, hat uns als Menschheit nirgendwohin gebracht, back to the roots, die Instinkte müssen wieder her! – Das Ganze ebenfalls nicht unemotional.

Zwischenfazit: Das Für und Wider die Vernunft ist eine emotionale Debatte.

„Vernunft“ in der Philosophie – unterschiedliche Ansätze

Aber jetzt seien wir doch mal ganz… besonnen und klären: Was ist das überhaupt, Vernunft? Da tut sich ein buntes Sammelsurium an philosophischen Hinweisen auf, die die Herkunft, die Zusammenhänge und die Entwicklung des Wortes „Vernunft“ begleiten.

In der griechischen Antike sprechen die Begriffe „nous“, „logos“ und „dianoia“ von der Vernunft. Die Römer verwenden die lateinischen Begriffe „intellectus“ und „ratio“.  Sie meinen alle ein bisschen etwas Anderes, haben etwas damit zu tun, dass man etwas versteht, und zwar so, dass es alle auf diese oder sehr ähnliche Weise verstehen können. Etwas verstehen oder erkennen können (und zwar so, dass ich nicht die Einzige damit bleibe), ist ein Können, eine Fähigkeit. Vielleicht gar nicht so schlecht. Ich kann mich dann mit anderen darüber verständigen, wir teilen etwas, haben eine gemeinsame Basis.

Im Mittelalter überlegen sich Philosophen, ob Vernunft ein unmittelbares Verstehen bedeutet, etwa einen direkten Anschluss ohne Fehleinschätzung an etwas Übersinnlich-Göttliches. Oder formatiert sie quasi unser Verstehen, macht es zu einem arbeitsfähigen System? Die Begriffe, die um die Vernunft kreisen, werden hier noch lange nicht einheitlich verwendet, gerade die Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand ist nicht eindeutig.

Kant – wer denn sonst – spricht dann ein Machtwort. Ohne dass ich auf Details eingehen will: Kant hat die Vernunft systematisch über den Verstand gestellt, da die Vernunft bei ihm sozusagen die Fähigkeit bedeutet, Verstand zu haben und zwar auf eine geordnete und in seiner Kompetenz eindeutig beschreibbaren Art und Weise.

Dieser Miniexkurs bis Kant ist natürlich nicht belastbar. Was ich damit nur sagen will, ist:

  1. Was Vernunft ist, ist diskutierbar. Platon, Aristoteles, Luther, Kant und alle anderen Denkerinnen und Denker der Philosophiegeschichte, haben diesen Begriff unterschiedlich definiert, ihn von unterschiedlichen Standpunkten aus entwickelt, versucht, ihn in unterschiedlichen Zusammenhängen möglichst sinnbringend anzuführen.
  2. Im Groben und Ganzen hat Vernunft etwas damit zu tun, dass wir als Menschen in Beziehung zu etwas stehen, das nicht wir selbst sind, „außerhalb“ unserer, zur Welt, zum Sein, zu anderen Menschen. Und in dieser Beziehung soll es einen Faktor geben, der diese Beziehung überhaupt ermöglicht, führbar und erfolgreich-stimmig macht. Das bringt uns zu zwei klassischen Fragestellungen zur Vernunft: Ist Vernunft etwas zwischen mir und der „Wirklichkeit“ und/ oder zwischen mir und den anderen Menschen, die sich gemeinsam zu so etwas wie „Wirklichkeit“ verhalten? Beides? Keins von beiden?
  3. Das alles sagt nicht, dass Vernunft etwas „im Kopf“ sein müsse, „die Sache“ den Vorrang vor dem konkreten Menschen hätte, das „Rationale“ klar und eindeutig „sinnvoller“ als das „Emotionale“ sei.

Alternativen zur Vernunft?

In letzter Zeit wird neben dem Instinkt auch viel über die Intuition und das Bauchgefühl gesprochen. Ich tue mich schwer damit zu sagen, dass Philosophie etwas mit Bauchgefühl zu tun haben sollte. Und auch nicht mit Instinkt. Aber Philosophieren ist meiner Ansicht nach „Liebe zur Weisheit“. Und „Liebe“ will ich nicht mit „Streben nach“ gleichsetzen lassen. In „Liebe zu“ ist eine Qualität darin, die über Vernunft hinausgeht, jedenfalls über den Vernunftbegriff, wie er im Anschluss an Kant auftritt. Es geht natürlich nicht um eine rein gefühlte, unbewusste, getriebene Liebe. Aber wenn wir denken, sind wir bereits mehr als nur Köpfe, wir denken nie nur mit dem Kopf. Und diese Bereiche oder Fähigkeiten in uns mitzumeinen, wenn man von „Philosophieren“ spricht, verlangt von mir, die Vernunft nur als eine neben andere Kräfte des Philosophierens zu stellen.

Der Begriff der Intuition ist dem der Vernunft auch philosophiegeschichtlich gar nicht so fern, ja, an manchen Stellen überschneiden sie sich, berühren sich. Im Unterschied zur Vernunft kommt der Intuition etwas zu, das einfach so angenommen wird, ohne Begründung oder Begründungsmöglichkeit. Hmmm, das kann auch unheimlich werden. Wenn wir an Tyrannen, Diktatoren und Fanatiker denken – die lassen sich auch an keiner Begründung ihres Tuns messen. So sympathisch die Sache mit dem Bauchgefühl auch ist. Dennoch – in einer Zeit, in der wir kein Konzept von Wahrheit haben (wollen), also auch keine letzten Gründe angeben können (nein, die Zahlen 1 und 0 genauso wenig wie 1, 2 und 3 sind begründbar – Grundlage aller Naturwissenschaften), scheint es geradezu „irrational“, „Rationalität“ einzufordern, und „Intuition“ gering zu schätzen. Vielleicht verlangt Intuition von uns, ein anderes Verhältnis zu unserem Denken einzugehen. Vielleicht müssen wir so etwas wie Vertrauen in unser Denken integrieren, anstelle von Kritik oder Letztbegründungen – Vertrauen zum Denken und vor allem zum Gedachten.

Vielleicht müssen wir intuitiv philosophieren lernen, um nicht irrational zu philosophieren.

Und die Vernunft gebe ich deshalb nicht auf, ich mache mir nur nicht die Illusion, dass sie immer zuverlässig ist. Was passieren kann, wenn alle die Vernunft verlieren, zeigen uns die Geschichte und ein Blick in die unmenschlichen Ereignisse in aller Welt. Allerdings sind dort weder Vernunft noch Intuition ersichtlich.